Interview aus der Südostschweiz, vom 30.03.2024 von Piroska Szönye
Wenn man an die Zukunft der Kinder oder Jugendlichen denkt, steht irgendwann die Berufsbildung im Mittelpunkt. Jeder Mensch möchte sich entfalten und im zukünftigen Beruf erfolgreich sein. So haben auch Jugendliche mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) die gleichen Wünsche und Träume und Bedürfnisse wie alle anderen. Beim Eintritt ins Berufsleben steht den jungen Menschen nun ein neuer und wichtiger Lebensabschnitt bevor. Da kommen viele Fragen auf. Wie will man das alles meistern?
Das macht bestimmt nicht nur den Jugendlichen, sondern auch vielen Eltern Kopfzerbrechen. Die neue Struktur, andere Menschen, verschiedene Aufgaben und der Zeitstress sind die neuen grossen Herausforderungen, insbesondere dann, wenn es für die Betroffenen mit der ADHS schon erschwert ist.
«Der Wechsel von der Schule zum Berufsalltag zu meistern, ist nicht einfach», sagt Andreas Müller, Psychotherapeut FSP und CEO der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden. «Die Schwierigkeiten sind die Veränderungen im Alltag und der neue Lebensrhythmus», ergänzt der Experte. Denn wenn man Probleme mit Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeit habe, erschwerten diese Faktoren den Einstieg in den neuen Alltag das Leben zusätzlich. «Damit umzugehen, ist eine der grössten Herausforderungen für Betriebe, Lehrmeister und Lernende», betont der Experte, der in Landquart eine Praxis betreibt.
Das Verständnis für Jugendliche mit ADHS
Wie man Übergänge von Schule in die Berufswelt einfacher gestalten könne, fragen sich nicht nur die Experten für mentale Gesundheit, sondern auch das Schulsystem, die Wirtschaft, die Politik und vor allem die Eltern. «Eine Ausbildung erfordert nämlich in dieser Zeit nicht nur Leistung im Denkvermögen, sondern auch soziale Fähigkeiten, Organisationstalent und Durchhaltevermögen. Dies sind alles Eigenschaften, die bei Menschen mit ADHS den Berufsalltag beeinträchtigen», erklärt Müller.
Die Fähigkeit, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, Termine einzuhalten und situationsgerecht zu kommunizieren, seien die grossen Herausforderungen. Der Stress und das Austicken durch eine Überforderung sei eigentlich damit schon vorprogrammiert. «Dies kann schnell zu Frustration und Stress führen bei den betroffenen Jugendlichen, aber auch bei den Arbeitskollegen und den Vorgesetzten in den Lehrbetrieben», sagt Müller mit besorgter Miene. Dem entgegenzuwirken, bedeute auf allen Ebenen mit verschiedenen Strategien den neuen Alltag zu kreieren.
«Wie kann man den Übergang von Schule in die Berufswelt einfacher gestalten?» Andreas Müller, CEO der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden
Als Experte auf dem Gebiet der ADHS-Forschung betont Müller die Bedeutung einer ganzheitlichen Behandlung, die nicht nur medikamentöse Therapien, sondern auch Verhaltensinterventionen und Unterstützung am Arbeitsplatz beinhaltet. Für jeden gelte es, eine individuelle Bewältigungsstrategie zu entwickeln. Die Förderung von Selbstmanagement zu entfalten, sei entscheidend für die Jugendlichen, um wirklich gut Fuss zu fassen im Berufsleben.
Das Wichtigste sei, dass die jungen Menschen wüssten, dass sie nicht alleine seien und dass es Unterstützung gebe, um ihre beruflichen Ziele zu erreichen. Mit Selbsterkenntnis und Unterstützung am Arbeitsplatz und einem gesunden Lebensstil könnten die Jugendlichen ihre Fähigkeiten maximieren und sich erfolgreich im Berufsleben zurechtfinden. Andreas Müller spricht über die zunehmende Sensibilisierung für ADHS in der Gesellschaft. Man sei unermüdlich daran, neue Erkenntnisse zu gewinnen, die mit den Störungen von ADHS verbunden seien. An einer Fachtagung würden die Herausforderungen und Möglichkeiten aufgezeigt. Man könne auch kurzfristig übers Internet teilnehmen, sagt der Experte und lädt dazu ein.
Innovative Ansätze zur Diagnose
Einer der bedeutendsten Beiträge seiner Forschung sei die Entwicklung objektiver Messmethoden zur Diagnose von ADHS, erklärt Müller. Durch den Einsatz von Technologien wie der Neurobildgebung und der Analyse der Hirnfunktion könne man heute präzisere Diagnosen ermöglichen und verbessere damit die Behandlung von Betroffenen. «Es ist aber nicht genug, denn es sind zu viele Faktoren miteinander verbunden.» So erkannte Müller frühzeitig die Notwendigkeit, über die diagnostischen Verfahren hinauszugehen.
Er betont: «Die Messungen sind trotzdem oft immer noch eine Konstruktion des Territoriums, und nicht das Lebensfeld, da sie nur messbar in einem Laborumfeld sind, und nicht im richtigen Leben.» Die Betroffenen seien dadurch nicht in ihrem Alltag und auch nicht in ihrem eigenen Territorium. «Wir können also nur die Situationen für die Forschung inszenieren, doch das Leben ist individuell, und jeder Mensch kreiert jeden Moment seine Realität unaufhörlich neu», erklärt Müller dazu.
Gehirnmessung: In der Praxis in Landquart forscht und behandelt Andreas Müller, CEO der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden, zur Funktion des Gehirns bei ADHS.
«Liebe fördert eine hohe Selbstheilung. Dazu gehört Wertschätzung, füreinander da sein und Engagement.»Andreas Müller, Psychotherapeut FSP, CEO der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden
Resilienz und Ressourcen
Im Zusammenhang mit der mentalen Gesundheit ist ein weiterer Schwerpunkt die Erforschung von Resilienz und Ressourcen bei ADHS. Müller weist bei seinen Vorträgen darauf hin: «Man sollte nicht nur die Krankheitssymptome behandeln, sondern auch die Selbstheilungskräfte stärken.» ADHS verschwinde nicht einfach von heute auf morgen, sondern sei ein ständiger Begleiter.
Der als Psychotherapeut arbeitende Müller findet es wichtig, Stabilität zu entwickeln, damit jeder lerne, seine eigenen Ressourcen über längere Zeit adäquat nutzen zu können. Eine gute Unterstützung bestehe nicht nur durch die Vergabe von Medikamenten und Therapien.
Das Leben mit seinen vielschichtigen Emotionen gelte es zu leben, ohne gleich mit ADHS abgestempelt zu werden, so Müller weiter. Durch Covid hätten sich die Normen der Aufmerksamkeit von innen nach aussen und zurück verschoben. Das habe alle mal durchgerüttelt. «Die Gesellschaft braucht ein neues Gleichgewicht», ist Müllers Erkenntnis daraus.
«Wie kann man die Wahrnehmung der Menschen wieder auf Hoffnung, Zuversicht und Entwicklung richten?»Andreas Müller, Psychotherapeut FSP, CEO der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden
Würde sich die Wahrnehmung der Menschen wieder auf Hoffnung, Zuversicht und Entwicklung richten, passiere es von alleine, dass sich das mentale Gleichgewicht in der Gesellschaft wieder in eine positive Richtung ändert. Dies sogar mit oder ohne ADHS, visioniert der Experte.
Dr. phil. Andreas Müller, Psychotherapie FSP und CEO der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden ist Experte auf dem Gebiet der Hirnforschung. Er ist spezialisiert auf die Erforschung von Zusammenhängen zwischen Biologie und psychischen Störungen, insbesondere bei ADHS.