Der Brückenbauer, der beide Seiten versteht

Wenn Matthias Huber sein Haus verlässt, trägt er stets eine Mütze, Noise-Cancelling-Kopfhörer und eine Sonnenbrille bei sich. Nicht aus modischen Gründen, sondern als Schutzschild gegen eine Welt, die für ihn oft überwältigend ist. Reize, die andere Menschen kaum wahrnehmen, können für den 56-jährigen Psychologen wie Stromschläge wirken. Denn Matthias Huber lebt mit dem Asperger-Syndrom – und genau diese Selbstbetroffenheit macht ihn zu einem der wichtigsten Brückenbauer zwischen der neurotypischen und der autistischen Welt.

Am 11. Dezember 2025 wird Huber beim 15. Biomarker Workshop der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden in Zürich sprechen. Sein Vortrag «Zwischen den Welten: Therapie von innen verstehen» verspricht Einblicke, die nur jemand geben kann, der beide Perspektiven kennt: die des Betroffenen und die des Fachmanns.

Eine Diagnose als Wendepunkt

Als Kind war Matthias Huber extrem zurückgezogen. Obwohl er bereits mit zwei Jahren ganze Sätze sprechen konnte, machte er von seiner Sprachkompetenz kaum Gebrauch. Erst im Alter von 27 Jahren erhielt er die Diagnose Asperger-Syndrom – ein Moment der Erleichterung und des Verstehens. Plötzlich ergaben die jahrelangen Schwierigkeiten Sinn: die sensorische Überforderung, die soziale Erschöpfung, die Notwendigkeit strikter Routinen.

Doch statt sich zurückzuziehen, entschied sich Huber für einen bemerkenswerten Weg: Er absolvierte auf dem zweiten Bildungsweg ein Studium der Pädagogik und Psychologie an der Universität Zürich. Während des Studiums erhielt er ein Stipendium zur Förderung körper- und sinnesbehinderter Hochbegabter, damit er sich vollständig auf sein Studium konzentrieren konnte. Nach dem Lizentiat folgte 2009 eine Weiterbildung in kognitiver Verhaltenstherapie.

Über 20 Jahre klinische Expertise

Seit 2005 arbeitete Huber an der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern, ab 2019 als Oberpsychologe, wo er wesentlich am Aufbau der Autismus-Diagnostik und -Therapie beteiligt war. Seit 2023 ist er bei der Stiftung Kind & Autismus in Urdorf tätig und leitet dort die Autismus-Diagnostik und -Beratung. Seine Arbeit umfasst die Abklärung und Behandlung autistischer Kinder und Jugendlicher sowie Elternberatung.

Hubers therapeutischer Ansatz zeichnet sich durch aussergewöhnliche Präzision aus. Während viele Therapeuten mit offenen Fragen arbeiten («Wie fühlst du dich?»), stellt Huber hochpräzise Alternativfragen: «Wenn du Gitarre übst, schaust du auf die Saiten oder geradeaus oder an einen Ort, den ich nicht genannt habe?» Diese Präzision ermöglicht autistischen Kindern, ihre innere Welt zu artikulieren. Eltern berichten regelmässig: «Unser Kind sagt, Sie verstehen es.»

Die Perspektive umkehren: Neurotypen unter der Lupe

In seinen Publikationen und Vorträgen – ob beim Schweizer Kongress für Adlerianische Psychologie, an den Fachtagen Autismus in Ravensburg, bei Workshops in Berlin oder beim bayerischen Landesverband in Rosenheim – kehrt Huber konsequent die übliche Perspektive um. Statt nur autistische Menschen zu analysieren, richtet er den Blick auch auf «Neurotypen». Was oft als «Defizit» autistischer Menschen bezeichnet wird, entpuppt sich aus dieser Perspektive als unterschiedliche, gleichwertige Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung.

Diese Haltung prägt seine gesamte therapeutische Arbeit: «Ich sehe Autismus als eine Behinderung und eine Begabung zugleich.» Nicht Normalisierung ist das Ziel, sondern Verständnis und gegenseitige Anpassung. «Nicht nur wir, die von ASS betroffen sind, müssen uns der Gesellschaft anpassen. Auch die Gesellschaft soll offen werden für Menschen, die anders sind.»

Die Brücke zu objektiven Biomarkern

Diese Haltung korrespondiert perfekt mit dem Ansatz der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden. Die Integration objektiver Biomarker in die psychiatrische Diagnostik dient nicht der Pathologisierung, sondern der Wertschätzung neurodiverser Funktionsweisen.

Während andere Workshop-Referenten objektive neurobiologische Marker präsentieren – EEG-Muster, Event-Related Potentials, genetische Korrelationen –, wird Huber zeigen, was diese Messungen für das gelebte Leben bedeuten. Er kann aus Innenperspektive erklären, was es bedeutet, wenn EEG-Daten eine erhöhte sensorische Sensitivität zeigen, wenn Event-Related Potentials veränderte Verarbeitungsgeschwindigkeiten anzeigen, oder wenn Konnektivitätsmuster auf unterschiedliche neuronale Netzwerke hinweisen.

Diese Kombination ist selten: Viele Betroffene teilen ihre Erfahrungen, doch wenige haben gleichzeitig eine therapeutische Ausbildung und über 20 Jahre klinische Praxis. Umgekehrt haben viele Therapeuten exzellente Ausbildungen, doch fehlt ihnen die unmittelbare Erfahrung autistischer Wahrnehmung. Huber vereint beides – und demonstriert damit, dass Autismus kein Hindernis für eine erfolgreiche akademische und berufliche Laufbahn sein muss.

Was Teilnehmer erwarten können

Matthias Hubers Vortrag wird praktische Einblicke bieten in: präzise Kommunikationsstrategien für die therapeutische Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen, sensorische Unterstützungsmöglichkeiten in Klinik und Praxis, geschlechtsspezifische Aspekte (besonders wichtig angesichts der Tatsache, dass 80% der autistischen Frauen bis zum 18. Lebensjahr undiagnostiziert bleiben), und die Integration der Innenperspektive in evidenzbasierte Behandlungsansätze.

Sein Beitrag zeigt: Wenn wir verstehen, wie das autistische Gehirn funktioniert – messbar, quantifizierbar, objektiv –, können wir autistische Menschen besser unterstützen. Nicht durch Normalisierung, sondern durch Verstehen und gegenseitige Anpassung.


Biomarker Workshop 2025: ADHS-Autismus-Angst-Sensitivität
Donnerstag, 11. Dezember 2025, 9:00-17:30 Uhr
Paulus Akademie, Zürich (Hybrid-Format)

Mit internationalen Experten: Tony Attwood/Michelle Garnett, Nicole Chou, Silvana Markovska, Alexander Tenev, Matthias Huber, Corinne Henzen, Birgit Graf und Andreas Müller.

Anmeldung: https://gtsg.ch/de/biomarker-workshop-2025-2/

Gehirn- und Traumastiftung Graubünden
Tel.: 081 322 2828

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