Diese Studie untersuchte EEG-basierte Vigilanz-Trajektorien während einer Daueraufmerksamkeitsaufgabe bei 294 Kindern im Alter von 6 bis 17 Jahren, darunter 85 gesunde Kontrollkinder und 209 Kinder mit ADHD-Diagnose. Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit über längere Zeiträume aufrechtzuerhalten, ist für Kinder in schulischen Kontexten von zentraler Bedeutung und eng mit langfristigem akademischem Erfolg verbunden. Die Forscher entwickelten ein EEG-basiertes Vigilanzmaß mittels multipler Regression, das zeitabhängige Veränderungen im EEG-Leistungsspektrum während einer 21-minütigen visuellen Go/NoGo-Aufgabe erfasst.

Bei typisch entwickelnden Kindern zeigte sich ein charakteristisches Muster mit Zunahmen der Theta-, Alpha- und Beta-Aktivität sowie einer Abnahme der Gamma-Aktivität über die Aufgabendauer. Mittels k-means Clusteranalyse identifizierten die Wissenschaftler vier distinkte Vigilanz-Trajektorien mit jeweils unterschiedlichen Mustern der Aufmerksamkeitsregulation. Die Subgruppen unterschieden sich signifikant sowohl in verschiedenen Leistungsparametern als auch in der Ausprägung von ADHD-Symptomen.
Das normative Muster (Cluster 1 und 2) war durch eine stetig ansteigende oder zumindest nicht abnehmende Verläufe gekennzeichnet und mit besserer Aufgabenleistung assoziiert. Cluster 1 zeigte einen steilen Anstieg bis zum dritten Block ohne weiteren Anstieg im vierten Block, während Cluster 2 einen moderateren Anstieg bis Block 3 mit steilerer Steigung zum Ende aufwies. Atypische Muster mit ausgeprägten Abnahmen entweder spät (Cluster 3) oder früh (Cluster 4) in der Aufgabe waren mit vergleichsweise schwächerer Leistung verbunden.
Cluster 3 begann auf leicht höherem Niveau, stieg moderat bis Block 3 an und fiel dann erheblich fast auf das Ausgangsniveau zurück. Cluster 4 zeigte von Beginn an eine fallende Kurve, die sich zum letzten Block hin stabilisierte. Kinder in Cluster 1 machten signifikant weniger Auslassungsfehler als Kinder in Cluster 3 und 4 sowie weniger Kommissionsfehler als Cluster 3 und 4.
Bezüglich der ADHD-Symptomatik zeigten Cluster 1 und 2 signifikant niedrigere Unaufmerksamkeitswerte als Cluster 4. Die Verteilung von Kindern mit und ohne ADHD über die Cluster zeigte eine statistisch signifikante Abhängigkeit, wobei Cluster 2 tendenziell mehr Kontrollkinder und Cluster 3 weniger Kontrollkinder als erwartet aufwies. Interessanterweise zeigte sich auch ein signifikanter Zusammenhang zwischen regelmäßiger Methylphenidat-Einnahme und Clusterzugehörigkeit.

Die beobachtete Zunahme der Theta-Aktivität über die Zeit wird als zunehmende Anstrengung zur angemessenen Reaktionsbereitstellung oder als verstärkte Bemühung interpretiert, intern gerichtete mentale Prozesse zu unterdrücken. Die noch stärker ausgeprägte Zunahme der Alpha-Aktivität, besonders in posterioren Regionen, reflektiert möglicherweise ein wachsendes Bedürfnis, ablenkende Prozesse zu unterdrücken, sowie eine zunehmend anstrengende Vorbereitung auf jeden kommenden Durchgang. Die Zunahme der Beta-Aktivität über frontal-parietale Regionen könnte eine erhöhte mentale Anstrengung zur Aufrechterhaltung der Vigilanz widerspiegeln, möglicherweise als kompensatorische Reaktion auf steigende Ermüdung.
Die Abnahme der Gamma-Aktivität über zentrale und posteriore Regionen wird als Index für die Verfügbarkeit stimulus-gerichteter Aufmerksamkeitsressourcen im Kontext prolongierter Aufmerksamkeit interpretiert. Das Muster von Cluster 3 mit seinem Abfall gegen Ende erscheint fast prototypisch für Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit über längere Zeitspannen und deutet auf eine progressive Zunahme kognitiver Ermüdung hin. Das von Anfang an atypische Muster in Cluster 4 legt Beeinträchtigungen bei der Initiierung von Aufmerksamkeit nahe, die auf gestörte Selbstregulation oder Zielsetzungsfähigkeit und möglicherweise reduzierte Motivation hinweisen.
Solche Schwierigkeiten bei der Aufgabeninitiation und Selbstregulation erfordern unterstützende Interventionen mit Fokus auf externe Strukturierung wie strukturierte Pläne, Motivationshilfen oder belohnungsbasierte Systeme. Herausforderungen, die aus kognitiver Belastung oder mentaler Überlastung resultieren, könnten Anpassungen der Aufgabenstruktur erfordern, beispielsweise durch Aufteilung in kleinere Einheiten oder Einbau regelmäßiger Pausen. Die Studie weist jedoch auch Limitationen auf, insbesondere die moderate Varianzaufklärung von R² = 0.2, was die Anwendung des Modells zur Zuordnung von Individuen zu spezifischen Clustern einschränken könnte.
Dennoch können die Vigilanz-Trajektorien als robuste und informative, wenngleich primär hypothesengenerierende oder heuristische Werkzeuge betrachtet werden, deren Berücksichtigung in der individuellen klinischen Beurteilung als nützliche ergänzende Information dienen kann. Die identifizierten Vigilanzprofile deuten auf verschiedene Mechanismen der Daueraufmerksamkeitsregulation im Kindesalter hin und könnten helfen, diese Unterschiede auf individueller Ebene zu erkennen, wodurch der Weg für personalisierte Interventionen geebnet wird. Die Ergebnisse tragen zu einem besseren Verständnis der Mechanismen der Aufmerksamkeitsregulation in der Kindheit bei und bieten Ansatzpunkte zur Verbesserung von Diagnostik und personalisierter Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen.