Teil 3 der Artikel-Serie zum Biomarker Workshop 2025

«Ich kann tanzen. Ich kann mit jedem tanzen, der mit mir tanzen will, aber es ist immer ihre Choreographie.»

Dieses Zitat beschreibt treffend, was viele autistische Menschen – insbesondere Frauen – täglich erleben: Sie haben gelernt, sich anzupassen, soziale Regeln zu befolgen und «normal» zu erscheinen. Aber es ist immer eine Performance, nie authentisch.

Was ist Camouflaging?

Camouflaging bezeichnet die bewussten oder unbewussten Strategien, mit denen neurodivergente Menschen ihre Symptome verstecken, um sich anzupassen. Attwood und Garnett beschreiben den Prozess so:

  • Beobachten und Analysieren: Autistische Kinder beobachten soziale Interaktionen genau
  • Muster erkennen: Sie versuchen, soziale Muster und Systeme zu erlernen
  • Imitieren: Soziale Fähigkeiten werden durch intellektuelle Analyse statt Intuition erworben
  • Maskieren: Sie erschaffen eine soziale Maske und werden zu «Chamäleons»

Der frühe Beginn

Camouflaging beginnt oft schon in der frühen Kindheit. Autistische Kinder sind sich ihrer Schwierigkeiten sehr bewusst:

  • Sie wissen, dass sie Mühe haben, nonverbale Kommunikation zu lesen
  • Sie verstehen nicht intuitiv, wie man Freundschaften schliesst und pflegt
  • Sie sind zunächst distanziert von Gleichaltrigen
  • Sie beobachten soziale Interaktionen aufmerksam
  • Sie suchen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, um Mobbing zu vermeiden

Die psychologischen Kosten

Das ständige Maskieren hat einen hohen Preis:

  • Verlust des authentischen Selbst: «Ich weiss nicht, wer ich wirklich bin»
  • Niedriges Selbstwertgefühl: Verbunden mit anhaltender Selbstanalyse
  • Angst vor Enthüllung: Die Sorge, dass Freundschaften auf Täuschung und falscher Identität basieren
  • Tiefe innere Einsamkeit: Verstärkt durch die Kluft zwischen Maske und wahrem Selbst
  • Angst vor Ablehnung: «Wenn mein wahres Selbst enthüllt wird, werde ich vielleicht abgelehnt und verachtet»

«Ich versuche, die Person zu sein, die sie wollen, dass ich bin.»

«Ich habe so gute Arbeit geleistet, normal zu erscheinen, dass niemand wirklich glaubt, dass ich autistisch bin.»

Geschlechterunterschiede beim Camouflaging

Die Forschung zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern:

  • Autistische Frauen sind tendenziell besser im Camouflaging als autistische Männer
  • Sie nutzen diese Anpassungsstrategie in einem breiteren Spektrum sozialer Situationen
  • Sie «fliegen unter dem Autismus-Radar» und verzögern eine diagnostische Abklärung
  • Oft hören sie: «Du bist zu sozial, um Autismus zu haben»

Camouflaging bei AuDHD

Menschen mit AuDHD (Autismus + ADHS) erleben eine doppelte Belastung des Maskierens:

  • Camouflaging, um dazuzugehören, Mobbing zu vermeiden und akzeptiert zu werden
  • Unterdrückung sowohl autistischer als auch ADHS-Symptome
  • Erschöpfend
  • Das Gefühl, dass andere das autistische Selbst nicht akzeptieren
  • Unrealistische Erwartungen von anderen
  • Trauer über den Verlust des «wahren Ich»

Warum objektive Diagnostik hilft

Gerade bei Menschen, die erfolgreich camouflieren, kann eine rein verhaltensbasierte Diagnostik versagen. Hier können objektive Biomarker einen entscheidenden Beitrag leisten: Sie erfassen neurobiologische Muster, die unabhängig von der sozialen Performance sichtbar werden.

Mehr erfahren beim Biomarker Workshop 2025

Am 11. Dezember 2025 diskutieren internationale Experten in Zürich, wie integrative Diagnostik bei ADHS, Autismus und Angststörungen funktioniert.

Anmeldung: https://gtsg.ch/de/biomarker-workshop-2025-2/

Quelle: Handout «Understanding Autism and ADHD» von Prof. Tony Attwood & Dr. Michelle Garnett, 2025