Biomarker Workshop 2025: Save THE DATE: 11.12.2025 Donnerstag, 13:30-17:30, möglicherweise ganzer Tag.

Die Diagnose und das Verständnis von Neurodivergenz haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich weiterentwickelt. Dennoch bleiben die Abgrenzungen und Überschneidungen zwischen ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen, Angsterkrankungen und Hypersensitivität eine Herausforderung sowohl für Fachkräfte als auch für Betroffene und ihre Familien.

Differentialdiagnose: Mehr als nur oberflächliche Ähnlichkeiten

Wie Aleksander Knauerhase in seiner Analyse treffend beschreibt, ist das Problem der Differentialdiagnose bei neurodivergenten Zuständen komplex. Autismus, ADHS und Hypersensitivität können äußerlich ähnliche Verhaltensweisen zeigen, haben aber unterschiedliche neurologische Grundlagen und Verarbeitungsmuster.

Bei Autismus liegt das Hauptproblem in der schieren Menge der Reize, die das Bewusstsein erreichen. Wie im Paketzentrum-Metapher veranschaulicht: Während neurotypische Menschen 300 «Pakete» pro Tag verarbeiten müssen, sind es bei autistischen Menschen 1.000 Pakete – eine Überforderung durch Quantität.

ADHS hingegen zeigt sich eher in der Art der Verarbeitung. Das Problem liegt nicht primär in der Reizfilterung, sondern in der Aufmerksamkeitssteuerung und Impulskontrolle nach der Reizverarbeitung. Bei ADHS bricht das System der geordneten Verarbeitung häufiger zusammen – alle «Pakete» landen chaotisch auf einem Haufen, und der Betroffene weiß nicht, wo er anfangen soll.

Komorbiditäten und Wechselwirkungen

Die Realität ist jedoch noch komplexer, da diese Bedingungen häufig gemeinsam auftreten. Studien zeigen, dass zwischen 20-70% der autistischen Menschen auch ADHS-Kriterien erfüllen, wobei die große Varianz in den Zahlen auf diagnostische Ungenauigkeiten und unterschiedliche Forschungsmethoden zurückzuführen ist.

Besonders bedeutsam ist die Rolle von Angststörungen in diesem Zusammenhang. Wie Miriam Thunser aus persönlicher Erfahrung schildert, entwickeln viele autistische Menschen im Laufe ihres Lebens komorbide Angsterkrankungen. Dies ist oft eine direkte Folge von:

  • Chronischem Stress durch sensorische Überlastung
  • Sozialen Missverständnissen und Mobbing-Erfahrungen
  • Ständigem Maskieren und Kompensieren
  • Unvorhersagbaren Umgebungen und Veränderungen

Der Kreislauf von Überforderung und Angst

Ein zentraler Aspekt, der in der therapeutischen Praxis oft übersehen wird, ist die Wechselwirkung zwischen autistischen Merkmalen und Angststörungen. Angst führt zu erhöhter sensorischer Sensitivität und reduzierter Belastbarkeit, was wiederum Overloads und Meltdowns begünstigt. Diese verstärken die Angst vor zukünftigen Situationen – ein Teufelskreis entsteht.

Heidrun Overberg betont in ihrer langjährigen klinischen Erfahrung, dass bereits im Kindergarten- und Grundschulalter die Weichen gestellt werden. Autistische Kinder, die früh negative Erfahrungen machen, entwickeln oft defensive Strategien, die später zu manifesten Angststörungen werden können.

Hypersensitivität: Mehr als nur «empfindlich sein»

Die Hypersensitivität verdient besondere Beachtung, da sie sowohl bei Autismus als auch bei Angststörungen eine zentrale Rolle spielt. Sie manifestiert sich in verschiedenen Formen:

  1. Sensorische Hypersensitivität: Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen, Licht, Texturen oder Gerüchen
  2. Emotionale Hypersensitivität: Intensive Wahrnehmung und Reaktion auf emotionale Reize
  3. Soziale Hypersensitivität: Überempfindlichkeit gegenüber sozialen Signalen und Atmosphären

Diese verschiedenen Formen der Hypersensitivität können unabhängig voneinander oder in Kombination auftreten und sowohl bei autistischen als auch bei nicht-autistischen Menschen vorkommen.

Therapeutische Herausforderungen und Ansätze

Die aktuellen therapeutischen Angebote werden den komplexen Bedürfnissen neurodivergenter Menschen oft nicht gerecht. Wie Thunser kritisch anmerkt, mangelt es vielen Therapeuten an fundiertem Wissen über die Wechselwirkungen zwischen Autismus und Angststörungen.

Erfolgreiche therapeutische Ansätze sollten berücksichtigen:

  • Die individuellen sensorischen Profile
  • Die begrenzte «Energie-Batterie» autistischer Menschen
  • Die Notwendigkeit strukturierter und vorhersagbarer Umgebungen
  • Die Bedeutung von Selbstregulationsstrategien
  • Die Validierung autistischer Erfahrungen ohne pathologisierende Bewertung

Gesellschaftliche Implikationen

Die zunehmende Sensibilisierung für Neurodiversität erfordert ein Umdenken in Bildung, Arbeitswelt und Gesundheitswesen. Overbergs Beobachtung, dass die Versorgungsqualität in den letzten Jahren eher abgenommen hat, ist alarmierend und zeigt den dringenden Handlungsbedarf auf.

Fazit: Ein holistischer Blick auf Neurodiversität

Die Zukunft der Neurodiversitäts-Forschung und -Behandlung liegt in einem ganzheitlichen Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen neurologischen Variationen. Nur durch die Anerkennung dieser Komplexität können wir angemessene Unterstützung und Therapien entwickeln, die dem individuellen Erleben gerecht werden.

Das Ziel sollte nicht die «Normalisierung» oder «Heilung» von Neurodivergenz sein, sondern die Schaffung von Umgebungen und Strategien, die es neurodivergenten Menschen ermöglichen, ihr volles Potenzial zu entfalten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.