Erkenntnisse aus 80 Jahren klinischer Praxis von Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett

Teil 1 der Artikel-Serie zum Biomarker Workshop 2025

Lange Zeit galten Autismus und ADHS als sich gegenseitig ausschliessende Diagnosen. Erst mit der Revision des DSM-5 im Jahr 2013 wurde anerkannt, was Betroffene und erfahrene Kliniker längst wussten: Beide Zustände können – und tun dies häufig – gemeinsam auftreten.

Die Forschung der letzten Jahre hat diese klinische Beobachtung eindrücklich bestätigt. Die Kombination aus Autismus und ADHS ist so häufig, dass sich dafür ein eigener Begriff etabliert hat: AuDHD.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache

Die aktuellen Prävalenzraten zeigen das Ausmass der Überschneidung:

  • Autismus: 1 von 36 Personen (CDC, 2023)
  • ADHS: 1 von 10 Personen (Danielson et al., 2018)
  • AuDHD: 40-70% der autistischen Menschen erfüllen auch die Kriterien für ADHS

Diese letzte Zahl stammt aus einer Meta-Analyse von 63 Studien (Rong et al., 2021) und verdeutlicht: Bei autistischen Menschen ist ADHS nicht die Ausnahme, sondern fast die Regel.

Was bedeutet es, AuDHD zu haben?

Menschen mit AuDHD erleben oft ein inneres Tauziehen zwischen gegensätzlichen Bedürfnissen und Tendenzen:

  • Spontane Pläne machen (ADHS), aber sehr aufgebracht sein, wenn diese Pläne unterbrochen werden (Autismus)
  • Schwierigkeiten, den Tag zu organisieren (ADHS), aber ein starkes Bedürfnis nach Ordnung haben (Autismus)
  • Mühe haben, pünktlich zu sein (ADHS), aber verärgert sein, wenn andere wenige Minuten zu spät kommen (Autismus)
  • Sich auf viele verschiedene Themen hyperfokussieren (ADHS) und gleichzeitig langfristige Spezialinteressen pflegen (Autismus)
  • Neue Erfahrungen suchen (ADHS) und gleichzeitig Vorhersehbarkeit und Gleichheit brauchen (Autismus)

«Ein Ferrari mit Fahrradbremsen»

«Es ist nicht so, dass ich ein Defizit an Aufmerksamkeit habe. Ich nehme alles auf. Ich achte auf alles. Wenn überhaupt, ist es eine Aufmerksamkeitsüberlastung. Das Defizit besteht darin, herauszufinden, was wichtig ist und es rechtzeitig zu erledigen. Der Teil des Gehirns, der für das Priorisieren, Integrieren und Sortieren all der eingehenden Informationen zuständig ist – ist einfach ziemlich schlecht in seinem Job. Mein Gehirn ist ein Ferrari mit Fahrradbremsen, es hat kein Ablagesystem.»

— Hannah Gadsby, «Ten Steps to Nanette»

Dieses Zitat der australischen Komikerin Hannah Gadsby, die selbst autistisch ist und ADHS hat, beschreibt treffend, was viele Betroffene erleben: Es geht nicht um mangelnde Aufmerksamkeit, sondern um die Schwierigkeit, die Flut von Eindrücken zu filtern und zu priorisieren.

Die Neurobiologie: Unterschiedliche Muster bei den Exekutivfunktionen

Die Forschung von Craig et al. (2016) zeigt interessante Unterschiede zwischen Autismus und ADHS bei den exekutiven Funktionen:

Nur bei ADHS, nicht bei Autismus:

  • Schwierigkeiten mit der Reaktionshemmung (Impulsivität)

Nur bei Autismus, nicht bei ADHS:

  • Schwierigkeiten mit Flexibilität
  • Schwierigkeiten mit Planung

Bei Menschen mit AuDHD können beide Muster gleichzeitig auftreten – was erklärt, warum sie einerseits Struktur und Planung brauchen, andererseits aber Mühe haben, diese umzusetzen.

Die Stärken von AuDHD

Attwood und Garnett betonen, dass die Kombination von Autismus und ADHS auch einzigartige Stärken hervorbringen kann:

Innovative und kreative Problemlösung: Die Verbindung der schnellen, expansiven Denkmuster des ADHS mit der autistischen Fähigkeit zu tiefer, anhaltender Detailaufmerksamkeit.

Hyperfokussiertes Engagement: Wenn das Interesse geweckt ist, führt die starke Hyperfokus-Fähigkeit zu umfassendem Wissen und Expertise.

Beharrlichkeit und Anpassungsfähigkeit: Autistische Entschlossenheit kombiniert mit der ADHS-Fähigkeit, Veränderungen und neue Ideen anzunehmen.

Leidenschaft und Intensität: Die tiefe Leidenschaft für ein Thema (Autismus) kombiniert mit dem Energieantrieb des ADHS.

Erhöhte Wahrnehmung: Beide Zustände bringen eine gesteigerte sensorische Sensitivität mit sich, die zu besonderen Fähigkeiten in Musik, bildender Kunst und wissenschaftlicher Forschung führen kann.

Fazit: Entdeckung statt Diagnose

Attwood und Garnett schlagen vor, den Begriff «Entdeckung» («Discovery») anstelle von «Diagnose» zu verwenden. Denn eine Diagnose ist oft der Beginn eines neuen Selbstverständnisses – nicht das Ende einer Suche, sondern der Anfang eines tieferen Verstehens der eigenen Neurologie.

Temple Grandin bringt es auf den Punkt: «Wenn die Welt euch Geselligen überlassen würde, würden wir immer noch in Höhlen sitzen und miteinander reden.»

Mehr erfahren beim Biomarker Workshop 2025

Prof. Tony Attwood und Dr. Michelle Garnett werden am 11. Dezember 2025 beim Biomarker Workshop in Zürich ihre Keynote «Beyond the Stereotypes: Biomarkers for the Hidden Presentations of Autism, ADHD, and Anxiety» präsentieren.

Anmeldung: https://gtsg.ch/de/biomarker-workshop-2025-2/

Quelle: Handout «Understanding Autism and ADHD» von Prof. Tony Attwood & Dr. Michelle Garnett, 2025

Dies ist Teil 1 einer Artikel-Serie basierend auf den Inhalten des Biomarker Workshops 2025. Weitere Artikel folgen zu den Themen: ADHS bei Frauen und Mädchen, Camouflaging, Angst und sensorische Sensitivität sowie Therapieansätze.

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