ADHS – Autismus – Angst – Hypersensitivität – PDA
Gehirn- und Traumastiftung Graubünden (GTSG)
Ergänzungsmaterial zum Biomarker Workshop 2025 | 11. Dezember 2025, Zürich
Einleitung: Von der Pathologie zur evolutionären Perspektive
Die moderne Neurowissenschaft beginnt zu verstehen, dass viele als «Störungen» klassifizierte Zustände evolutionäre Ursprünge haben könnten. Wie Yuval Noah Harari in «Sapiens» beschreibt, lebten Menschen über 95% ihrer Existenz als Jäger und Sammler in kleinen, egalitären Gruppen. Die neurobiologischen Variationen, die wir heute als ADHS, Autismus, Angststörungen, Hypersensitivität und PDA kennen, könnten in diesen Kontexten adaptive Vorteile geboten haben.
Dieser Ansatz ersetzt nicht die klinische Diagnostik, sondern ergänzt sie um eine wertschätzende Perspektive, die neurodivergente Menschen nicht als «defekt», sondern als Träger evolutionär bedeutsamer Eigenschaften versteht.
1. Der Jäger (Hunter) – ADHS hyperaktiv-impulsiver Typ
Evolutionäre Funktion
Die Hunter/Farmer-Hypothese, entwickelt von Thom Hartmann in den 1990er Jahren, positioniert den hyperaktiv-impulsiven ADHS-Typ als «Jäger» – ein Individuum, dessen neurologische Eigenschaften für das Überleben in prähistorischen Jagdkontexten optimiert waren.
Kernmerkmale und ihre adaptive Bedeutung
Impulsivität: Schnelle Entscheidungsfindung ohne langes Abwägen – überlebenswichtig bei der Jagd, wenn Beute flieht.
Hypervigilanz: Ständiges Scannen der Umgebung nach Bewegungen, Geräuschen, Gefahren – essentiell für erfolgreiche Jagd und Raubtiervermeidung.
Risikobereitschaft: Bereitschaft, Gefahren einzugehen für potentielle Belohnungen – notwendig für die Großwildjagd.
Hyperfokus: Intensive Konzentration auf bewegte Ziele – kritisch für erfolgreiche Verfolgungsjagden.
2. Der Sammler/Träumer (Gatherer) – ADHS unaufmerksamer Typ
Evolutionäre Funktion
Der unaufmerksame ADHS-Typ – oft als «Träumer» oder «verträumt» beschrieben – passt nicht ins klassische Jäger-Schema. Stattdessen könnten diese Eigenschaften für das Sammeln und die kreative Problemlösung optimiert gewesen sein.
Kernmerkmale und ihre adaptive Bedeutung
Breite Aufmerksamkeit: Diffuses Wahrnehmen der Umgebung – ideal zum Erkennen essbarer Pflanzen, Pilze, Früchte in komplexen Landschaften.
Tagträumen: Mentale Simulation und kreatives Denken – ermöglicht Innovation und neue Lösungsansätze.
Geduld: Fähigkeit zu warten und zu beobachten – essentiell für das Sammeln und für handwerkliche Tätigkeiten.
3. Der Spezialist (Solitary Forager) – Autismus-Spektrum
Evolutionäre Funktion
Jared Reser formulierte 2011 die «Solitary Forager Hypothesis»: Autistische Merkmale könnten Anpassungen an eine Lebensweise als Einzeljäger oder spezialisierter Sammler darstellen, die unabhängig von der Hauptgruppe operierte.
Penny Spikins und Kollegen von der University of York argumentierten 2016, dass autistische Merkmale zum evolutionären Erfolg der Menschheit beigetragen haben könnten, insbesondere durch spezialisiertes Wissen und innovative Problemlösung.
Kernmerkmale und ihre adaptive Bedeutung
Spezialinteressen: Tiefes Expertenwissen in spezifischen Bereichen – machte Individuen zu unverzichtbaren Wissensträgern für Werkzeugherstellung, Navigation, Medizin.
Mustererkennung: Überlegene Fähigkeit, Muster und Abweichungen zu erkennen – kritisch für Spurenlesen, Wettervorhersage, Ressourcenidentifikation.
Soziale Unabhängigkeit: Geringeres Bedürfnis nach sozialer Bestätigung – ermöglichte autonomes Arbeiten und unkonventionelles Denken.
4. Der Wächter (Sentinel) – Angststörungen
Evolutionäre Funktion
Randolph Nesse beschrieb 2011 die «Smoke Detector Principle»: Angst ist ein evolutionäres Alarmsystem, das auf falsch-positive Alarme kalibriert ist, weil die Kosten eines verpassten Raubtiers (Tod) die Kosten eines Fehlalarms (Energieverschwendung) bei weitem übersteigen.
Kernmerkmale und ihre adaptive Bedeutung
Hypervigilanz: Ständiges Scannen nach Gefahren – machte diese Individuen zu idealen Nachtwächtern und Späher.
Antizipatorische Angst: Vorhersehen möglicher Probleme – ermöglichte präventive Planung und Ressourcenvorsorge.
Soziale Sensitivität: Feines Gespür für Gruppendynamiken und potentielle Konflikte – wichtig für Gruppenharmonie.
5. Der Umweltdetektor (Canary) – Hypersensitivität
Evolutionäre Funktion
Elaine Aron prägte 1996 das Konzept der «Highly Sensitive Person» (HSP) und argumentierte, dass sensorische Verarbeitungssensitivität eine evolutionäre Strategie darstellt – die «Pause-to-Check»-Strategie, die in 15-20% aller höheren Tierarten vorkommt.
Kernmerkmale und ihre adaptive Bedeutung
Sensorische Feinabstimmung: Wahrnehmen subtiler Umweltveränderungen – erste Warnung vor Wetterumschwüngen, Raubtieren, verdorbenem Wasser.
Emotionale Resonanz: Tiefes Empfinden der Stimmungen anderer – ermöglichte frühzeitiges Erkennen von Gruppenspannungen.
Tiefe Informationsverarbeitung: Gründliches Durchdenken vor dem Handeln – verhinderte vorschnelle Fehler in gefährlichen Situationen.
6. Der Souveräne (Sovereign) – PDA-Profil
Definition und Hintergrund
PDA (Pathological Demand Avoidance) wurde erstmals in den 1980er Jahren von Professor Elizabeth Newson an der University of Nottingham beschrieben. Sie identifizierte eine Gruppe von Kindern mit einer «obsessiven Vermeidung der gewöhnlichen Anforderungen des Alltags» (Newson et al., 2003, Archives of Disease in Childhood). Heute wird PDA oft als «Pervasive Drive for Autonomy» – durchdringendes Streben nach Autonomie – umbenannt, was den Kern des Profils besser erfasst.
Nicole Chou wird beim Biomarker Workshop 2025 genau dieses Thema vertiefen: «PDA – Pathological Demand Avoidance or Persistent Drive for Autonomy».
Evolutionäre Funktion: Der Anti-Hierarchie-Detektor
Die evolutionäre Perspektive auf PDA ergibt sich aus der anthropologischen Forschung zu Jäger-Sammler-Gesellschaften. Christopher Boehm beschrieb 1999 in «Hierarchy in the Forest» das Phänomen der «Reverse Dominance Hierarchy»: Jäger-Sammler-Gesellschaften waren aktiv egalitär und widersetzten sich systematisch jeder Form von Dominanz.
Peter Gray, Entwicklungspsychologe am Boston College, dokumentierte 2011 in Psychology Today: «Als Teil ihres Egalitarismus haben sie einen außergewöhnlichen Respekt vor individueller Autonomie. Sie sagen einander nicht, was sie tun sollen.» Er beschrieb Jäger-Sammler als «fiercely egalitarian» – leidenschaftlich egalitär.
Eine 2025 publizierte Studie von Thomson et al. im Journal of Cross-Cultural Psychology bestätigte: «In allen drei Gruppen mit unmittelbarer Subsistenzwirtschaft bildeten Individuen moralisch vereinte Koalitionen, um hierarchisches Verhalten kollektiv zu unterdrücken.»
Kernmerkmale und ihre adaptive Bedeutung
Intensive Autonomie-Bedürfnis: Das Kernmerkmal von PDA ist laut Forschung ein «intensives und durchdringendes Bedürfnis nach persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung» (Wilding, 2022). Evolutionär: Schutz vor Ausbeutung durch dominante Individuen.
Fight-Flight-Freeze auf Anforderungen: PDA-Individuen zeigen laut PDA North America «hochsensible Neurozeption, die eine Trauma-Antwort auf wahrgenommene Bedrohungen auslöst, die anderen nicht offensichtlich erscheinen». Evolutionär: Frühwarnsystem gegen soziale Manipulation und Zwang.
Soziale Strategien zur Vermeidung: PDA-Betroffene nutzen Ablenkung, Verhandlung, Rollenspiel – keine passive Verweigerung. Evolutionär: Diplomatische Widerstandsformen, die Gruppenharmonie wahren.
Gleichheitsbewusstsein: Newson beobachtete, dass PDA-Kinder oft «keinen normalen Sinn für soziale Identität» zeigen und sich «auf Augenhöhe oder überlegen gegenüber Erwachsenen» fühlen. Evolutionär: Reflexion der egalitären Normen von Jäger-Sammler-Gesellschaften, in denen Erwachsene keine automatische Autorität über Kinder hatten.
Der historische Kontext: Von Egalitarismus zu Hierarchie
Wie Harari in «Sapiens» beschreibt, brachte die Agrarrevolution vor etwa 10.000 Jahren fundamentale Veränderungen: feste Strukturen, Hierarchien, Befehlsketten, Erwartungen an Konformität. Das PDA-Profil könnte ein neurobiologisches «Überbleibsel» der egalitären Urinstinkte darstellen – ein Warnsystem gegen die Unterwerfung unter fremde Anforderungen, das in Jäger-Sammler-Zeiten hochadaptiv war.
Die anthropologische Forschung zeigt: Jäger-Sammler-Gesellschaften nutzten aktive «Leveling Mechanisms» – Spott, Ausgrenzung, sogar Exil – gegen jeden, der versuchte, andere zu dominieren (Boehm, 1993). Menschen mit PDA-Profil könnten diejenigen gewesen sein, die diese Leveling-Mechanismen am empfindlichsten auslösten und am aktivsten durchsetzten.
Neurobiologische Korrelate
PDA wird mit einem hochsensiblen autonomen Nervensystem in Verbindung gebracht. Die Reframing Autism Organisation beschreibt: «Individuen mit PDA können eine Fight-, Flight- oder Freeze-Reaktion zeigen, wenn sie mit Anforderungen konfrontiert werden, die ihre Unabhängigkeit bedrohen.»
Diese autonome Hypersensitivität – messbar durch EEG-basierte Biomarker und Herzratenvariabilität – könnte der biologische Ausdruck dieses evolutionären «Souveränitäts-Detektors» sein. Die Integration solcher Biomarker in die Diagnostik ist ein zentrales Thema des Biomarker Workshops 2025.
7. Integration: Das neurodivergente Ökosystem
Diese sechs Archetypen existierten nicht isoliert, sondern bildeten ein komplementäres Ökosystem innerhalb prähistorischer Gruppen:
Der Jäger (ADHS-H): Aktive Nahrungsbeschaffung, Verteidigung gegen Raubtiere
Der Sammler (ADHS-U): Ressourcenidentifikation, kreative Innovation
Der Spezialist (ASS): Technisches Wissen, Werkzeugherstellung, Mustererkennung
Der Wächter (Angst): Gefahrenerkennung, Planung, soziale Harmonie
Der Umweltdetektor (HSP): Frühwarnung, emotionale Intelligenz, Qualitätskontrolle
Der Souveräne (PDA): Schutz vor Hierarchisierung, Wahrung der Gruppengleichheit, Widerstand gegen Ausbeutung

Diese Perspektive ersetzt nicht die klinische Diagnostik, aber sie bietet einen wertschätzenden Rahmen: Neurodivergenz nicht als Defekt, sondern als Vielfalt evolutionär optimierter kognitiver Strategien.
Literaturverzeichnis
Aron, E.N. (1996). The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You. Broadway Books.
Boehm, C. (1993). Egalitarian Behavior and Reverse Dominance Hierarchy. Current Anthropology, 34(3), 227-254.
Boehm, C. (1999). Hierarchy in the Forest: The Evolution of Egalitarian Behavior. Harvard University Press.
Gray, P. (2011). How Hunter-Gatherers Maintained Their Egalitarian Ways. Psychology Today.
Gray, P. (2019). The Play Theory of Hunter-Gatherer Egalitarianism. Psychology Today.
Harari, Y.N. (2011). Sapiens: A Brief History of Humankind. Harvill Secker.
Hartmann, T. (1993). Attention Deficit Disorder: A Different Perception. Underwood Books.
Nesse, R.M. (2011). Anxiety: An Evolutionary Approach. Canadian Journal of Psychiatry, 56(12), 716-726.
Newson, E., Le Marechal, K., & David, C. (2003). Pathological demand avoidance syndrome: A necessary distinction within the pervasive developmental disorders. Archives of Disease in Childhood, 88(7), 595-600. doi: 10.1136/adc.88.7.595
O’Nions, E. et al. (2014). Development of the ‚Extreme Demand Avoidance Questionnaire‘ (EDA-Q). Journal of Child Psychology and Psychiatry, 55(7), 758-768.
PDA Society (2025). History of PDA Research. pdasociety.org.uk
Reser, J.E. (2011). Conceptualizing the Autism Spectrum in Terms of Natural Selection and Behavioral Ecology: The Solitary Forager Hypothesis. Evolutionary Psychology, 9(2), 207-238.
Spikins, P. et al. (2016). Autism and human evolutionary success. Time and Mind, 9(4), 323-351.
Thomson, J. et al. (2025). ‚Fiercely Egalitarian‘: Thematic Cross-Cultural Analysis Reveals Regularities in the Maintenance of Egalitarianism. Journal of Cross-Cultural Psychology.
Wilding, T. (2022). Pathological Demand Avoidance. tomlinwilding.com
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Biomarker Workshop 2025
11. Dezember 2025 | Zürich (Hybrid)
Mit Tony Attwood, Michelle Garnett, Nicole Chou und weiteren internationalen Experten
gtsg.ch/de/biomarker-workshop-2025-2/
© 2025 Gehirn- und Traumastiftung Graubünden (GTSG)
