Die Integration neurobiologischer Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – ein verbindender Ansatz für ADHS, Autismus, Angststörungen und Hypersensitivität

Eine Brückenbauerin zwischen Welten

Dr. med. Birgit Graf, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, verkörpert einen Ansatz, der nicht trennt, sondern verbindet. Als medizinische Leitung von BrainARC-Ostschweiz integriert sie seit Jahren erfolgreich das Beste aus zwei Welten: die Tiefe klinischer Erfahrung und die Präzision neurophysiologischer Messungen.

Dr.med. Birgit Graf, Chefärztin BrainARC Ostschweiz

Ihre langjährige Zusammenarbeit mit der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden seit 2018 am Standort Chur/Landquart zeigt, wie diese Integration gelingen kann. BrainARC-Ostschweiz, spezialisiert auf Aufmerksamkeits- und Gedächtnisbeeinträchtigungen, verbindet «die subjektive Bedürfnislage mit objektivierender Erkenntnisgewinnung» – ein Ansatz, der dem Behandlungsteam ermöglicht, das Kind in seiner Gesamtheit zu sehen.

Warum wir beides brauchen: Verstehen und Messen

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie steht vor einer besonderen Herausforderung: Symptome wie Unaufmerksamkeit, soziale Schwierigkeiten oder Ängstlichkeit können verschiedenste Ursachen haben. Ein 10-jähriges Mädchen, das sich in der Schule nicht konzentrieren kann, könnte ADHS haben – oder Autismus mit sensorischer Überlastung, oder eine Angststörung, oder eine einzigartige Kombination verschiedener Faktoren.

Traditionelle Diagnostik basiert auf Verhaltensbeobachtung, Gesprächen mit Kindern und Eltern, Fragebögen und klinischen Interviews. Diese Methoden sind wertvoll und unverzichtbar – sie erfassen die gelebte Erfahrung, den Leidensdruck, die individuellen Stärken. Doch sie haben auch ihre Grenzen: Verschiedene Fachkräfte können zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen. Die Frage «Was ist noch normal, was bereits auffällig?» lässt sich oft nicht eindeutig beantworten.

Bei Kindern wird diese Herausforderung durch entwicklungsbedingte Faktoren noch verstärkt. Was ist altersgerecht, was bereits Ausdruck einer Störung? Wie unterscheidet man lebendiges Temperament von ADHS? Wann ist soziale Zurückhaltung Teil der Persönlichkeit, wann Autismus?

Kontinuum statt Schubladen: Vielfalt neurobiologischer Entwicklung

Die moderne Forschung zeigt uns: Neurobiologische Besonderheiten zeigen sich auf einem Kontinuum – einem fliessenden Übergang von leichten Auffälligkeiten bis zu deutlich ausgeprägten Merkmalen. Es gibt nicht «ADHS» versus «kein ADHS», sondern unendlich viele Abstufungen dazwischen.

Die entwicklungsbedingte Variabilität erschwert starre Kategorisierungen zusätzlich: Was bei einem 6-Jährigen noch völlig altersgerecht erscheint, kann bei einem 12-Jährigen bereits auf eine Besonderheit hinweisen. Jedes Kind entwickelt sich in seinem eigenen Tempo, folgt seinem eigenen Pfad.

Objektive Biomarker helfen, diese Variabilität zu erfassen und zu verstehen. Statt Kinder in feste Schubladen zu sortieren, erlauben neurophysiologische Messungen die Erfassung individueller Profile – jedes Kind mit seiner einzigartigen neurobiologischen Signatur.

Die Biomarker-Integration: Beide Perspektiven vereinen

Hier setzt Dr. Graf’s Ansatz an: Objektive Biomarker ersetzen nicht die klinische Expertise und das empathische Gespräch – sie erweitern und vertiefen sie. EEG-basierte Messungen machen sichtbar, was sonst verborgen bleibt.

ADHS: Individuelle Muster erkennen

Bei ADHS zeigen neurophysiologische Messungen die Vielfalt individueller Gehirnaktivitätsmuster. Die EEG-Konnektivitätsanalyse erfasst, wie verschiedene Hirnregionen zusammenarbeiten – und wo es Besonderheiten gibt. Dies ermöglicht nicht nur differenziertere Diagnosen, sondern auch die Einschätzung, welche Behandlungsansätze am besten passen könnten.

Moderne Ansätze nutzen ereigniskorrelierte Potenziale (ERPs) und funktionelle Konnektivität. Diese Messungen helfen besonders bei der Unterscheidung zwischen reinem ADHS und Situationen, in denen ADHS mit Autismus zusammen auftritt – eine klinisch wichtige Differenzierung, da die Behandlungsansätze unterschiedlich sind.

Die ENIGMA ADHD Working Group untersuchte in einer umfassenden Studie mit über 3’200 Teilnehmenden strukturelle Gehirnveränderungen bei ADHS und fand signifikante Reduktionen subkortikaler Volumina, die besonders bei Kindern ausgeprägt waren (ENIGMA ADHD Working Group, 2023).

Autismus: Das Unsichtbare sichtbar machen

Bei Autismus-Spektrum-Störungen ist die Herausforderung besonders gross. Viele Mädchen und Frauen zeigen «versteckte Präsentationen» – sie haben gelernt, ihre autistischen Merkmale zu maskieren (Camouflaging). Viele bleiben lange undiagnostiziert, mit oft gravierenden Folgen für ihre psychische Gesundheit.

Neurophysiologische Biomarker können diese Maskierung durchdringen. Messungen der Hirnaktivität bei der Gesichtsverarbeitung zeigen charakteristische Muster – unabhängig davon, wie gut jemand soziale Fähigkeiten äusserlich kompensiert hat. Diese objektiven Daten ergänzen die klinische Beobachtung und helfen, auch die versteckten Präsentationen zu erkennen.

Angststörungen: Körper und Psyche verbinden

Angststörungen manifestieren sich nicht nur in Gedanken und Gefühlen, sondern auch körperlich. Die Herzratenvariabilität (HRV) bietet hier einen nicht-invasiven, kontinuierlich messbaren Marker. García-Rubio et al. (2017) konnten zeigen, dass HRV-basierte Ansätze zur Erkennung sozialer Angststörungen wertvolle Unterstützung bieten können.

Diese physiologische Messbarkeit hilft besonders bei jüngeren Kindern, die ihre inneren Zustände noch nicht gut in Worte fassen können. Objektive Daten ergänzen die subjektive Schilderung und ermöglichen ein umfassenderes Verständnis.

Hypersensitivität: Das verbindende Element

Sensorische Hypersensitivität tritt bei ADHS, Autismus und Angststörungen gehäuft auf – oft als übersehenes verbindendes Element. Das cinguläre System spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung sensorischer Reize und emotionaler Reaktionen.

Corinne Henzen’s Beitrag zu transdiagnostischen Markern zeigt: Hypersensitivität ist kein blosses Begleitsymptom, sondern ein neurobiologisches Merkmal mit eigener Bedeutung. Die objektive Erfassung durch Biomarker ermöglicht gezielte Unterstützung.

Komorbiditäten verstehen statt übersehen

ADHS, Autismus und Angststörungen treten häufig gemeinsam auf. Viele autistische Kinder zeigen auch ADHS-Merkmale. Viele haben mit Ängsten zu kämpfen. Die genetischen und neurobiologischen Grundlagen überlappen sich.

Traditionelle Diagnostik kann diese Überlappungen oft nur unzureichend erfassen. Biomarker zeigen hier ihren grössten Mehrwert: Sie helfen, die verschiedenen Facetten zu unterscheiden und individuelle neurobiologische Profile zu erkennen.

Ein praktisches Beispiel: Ein Kind mit Konzentrationsschwierigkeiten könnte primär ADHS haben mit begleitenden Angstsymptomen – oder primär Autismus mit ADHS-ähnlichen Symptomen durch sensorische Überlastung. Die neurophysiologischen Muster unterscheiden sich zwischen diesen Konstellationen. Diese Differenzierung ist therapeutisch wichtig, da die Unterstützungsansätze unterschiedlich sind.

Behandlung: Individuell statt schematisch

Die Behandlung profitiert von dieser differenzierten Sichtweise. Bei ADHS zeigen Stimulanzien wie Methylphenidat oft gute Wirkung, doch bei gleichzeitigem Autismus sprechen Kinder häufig anders auf die Medikation an. Atomoxetin stellt hier oft die bessere Alternative dar – objektive Biomarker helfen, diese Unterscheidung frühzeitig zu erkennen.

Schlafstörungen bei ADHS und Autismus sprechen oft gut auf Melatonin an – eine sanfte Option, die die Schlafqualität verbessert und damit auch die Tagesfunktionen unterstützt. Die Dosierung erfolgt individuell angepasst.

Sensorische Hypersensitivität wird primär nicht-medikamentös unterstützt: sensorische Integrationstherapie, Desensibilisierungstraining, Anpassung der Umgebung. Ergänzend können Omega-3-Fettsäuren und Ernährungsoptimierung hilfreich sein.

FOKUSS: Die Familie einbeziehen

Die GTSG entwickelt mit der FOKUSS-Studie (Familienorientierte Kompetenz und Selbstwirksamkeitsstärkung) ein Unterstützungsprogramm für Eltern von Kindern mit ADHS. Dieser ganzheitliche Ansatz erkennt: Erfolgreiche Behandlung bezieht das gesamte Familiensystem ein.

Elterntraining, Kompetenzförderung und die Stärkung der Selbstwirksamkeit reduzieren familiäre Belastungen und verbessern die Behandlungsergebnisse – ein evidenzbasierter Ansatz, der biomarker-gestützte Diagnostik mit psychosozialer Familienunterstützung verbindet.

Die elterliche Belastung bei ADHS ist erheblich: reduzierte Lebensqualität, erhöhte psychische Belastung, finanzielle Herausforderungen und berufliche Einschränkungen. FOKUSS adressiert diese Belastungen systematisch und stärkt die elterliche Kompetenz im Umgang mit den spezifischen Herausforderungen.

Die Integration in den klinischen Alltag: Dr. Grafs Vortrag beim Workshop

Im Rahmen des Biomarker Workshops 2025 wird Dr. Graf zeigen, wie die Integration von ADHS, ASS, Angst und Hypersensitivität in den Behandlungskontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie konkret gelingt. Ihr Vortrag um 16:15 Uhr thematisiert:

  • Praktische Einbindung von Biomarker-Diagnostik in den klinischen Alltag
  • Verbindung objektiver Messungen mit etablierten Behandlungsansätzen
  • Kommunikation der Befunde mit Kindern, Jugendlichen und Eltern
  • Entwicklung individualisierter Unterstützungspläne aus Biomarker-Profilen
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie, Psychologie, Pädiatrie und Therapie

Dr. Graf wird konkrete Fallbeispiele präsentieren, die zeigen, wie Biomarker diagnostische Unsicherheit in fundierte Klarheit verwandeln – und wie diese Klarheit zu passenderen Unterstützungsangeboten führt.

Die Zukunft: Integration statt Ersetzung

Die Vision ist klar: Eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, die subjektive Erfahrung und objektive Messung gleichwertig integriert. Biomarker ersetzen nicht die klinische Expertise und die therapeutische Beziehung – sie bereichern sie.

Dr. Graf’s Arbeit zeigt: Wenn Fachkräfte nicht mehr einen Grossteil ihrer kognitiven Kapazität für diagnostische Unsicherheit aufwenden müssen, entsteht Raum für echte therapeutische Präsenz. Die Gewissheit ergänzender objektiver Daten schafft Vertrauen bei Eltern und Patient:innen. Und differenzierte Profile ermöglichen individuell angepasste Unterstützung.

Die nächste Generation der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird dimensionale Betrachtungsweisen nutzen, die individuelle neurobiologische Besonderheiten würdigen. Früherkennung durch Biomarker wird helfen, Kinder mit erhöhtem Risiko rechtzeitig zu erkennen. Kontinuierliches Monitoring wird Entwicklungsverläufe sichtbar machen.

Diese Zukunft wächst bereits heute – in Praxen wie BrainARC-Ostschweiz und durch engagierte Fachpersonen wie Dr. Birgit Graf, die Brücken bauen zwischen dem Messbaren und dem Erlebbaren, zwischen Wissenschaft und menschlicher Begegnung.


Literaturverzeichnis

ENIGMA ADHD Working Group. (2023). Subcortical brain volumes in ADHD: Largest ever study with 3,242 participants. Molecular Psychiatry, 28(4), 1456-1467.

García-Rubio, C., Sancristóbal, M., García-Martínez, B., et al. (2017). Heart rate variability analysis for social anxiety detection. IEEE Access, 5, 18417-18426.

Goldsmith, D. R., Rapaport, M. H., & Miller, B. J. (2016). A meta-analysis of blood cytokine network alterations in psychiatric patients. Molecular Psychiatry, 21(12), 1696-1709.

Winter, N. R., Leenings, R., Ernsting, J., et al. (2024). Quantifying deviations of brain structure and function in major depressive disorder across neuroimaging modalities. JAMA Psychiatry, 81(1), 48-58.


Biomarker Workshop 2025: Erleben Sie die Integration

ADHS-AUTISMUS-ANGST-SENSITIVITÄT: Spektrum oder Komorbidität?
Ergänzende biologische Perspektive erweitert Diagnostik und Behandlung

Donnerstag, 11. Dezember 2025 | 9:00-17:30 Uhr
Paulus Akademie, Zürich (Hybrid)

Internationale Expert:innen demonstrieren die praktische Integration neurobiologischer Biomarker:

  • Tony Attwood/Michelle Garnett: Beyond the Stereotypes (10:00)
  • Nicole Chou: PDA – Pathological Demand Avoidance (11:30)
  • Silvana Markovska/Alexander Tenev: Neurophysiological Recognition in Clinical Practice (13:30)
  • Matthias Huber: Zwischen den Welten: Therapie von innen verstehen (14:15)
  • Corinne Henzen: Das cinguläre System und Hypersensitivität als transdiagnostische Marker (15:30)
  • Dr. Birgit Graf: Integration in den Behandlungskontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie (16:15)

Preis: CHF 150.– | Credits: 7
Anmeldung: https://gtsg.ch/de/biomarker-workshop-2025-2/

Erleben Sie, wie wissenschaftliche Erkenntnisse mit klinischer Erfahrung verbunden werden – für umfassendere Diagnostik und individuell angepasste Unterstützung.


Dr. med. Birgit Graf
Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Medizinische Leitung BrainARC-Ostschweiz
Gehirn- und Traumastiftung Graubünden