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Die diagnostische Phase nach einer Anmeldung in der Praxis ist durch ein Suchen nach Verstehen am besten zu erklären. Patienten melden sich in unserer Praxis an oder werden zugewiesen auf grund eines Leidens im Alltag. Dabei ist wenigstens zu Beginn noch völlig offen, um welches Leiden es sich handeln könnte. Obwohl wir häufig aufgesucht werden aufgrund von innerer Unruhe oder Konzentrationsschwierigkeiten, ist letztlich die Palette der möglichen Störungsbilder zu Beginn völlig offen. Aufgrund unserer Annahmen und Erfahrungen, wonach mentale Störungen durch ein bio-psycho-soziales Modell am Umfassendsten erklärt werden können, wird in der Regel ein Standardprotokoll des diagnostischen Prozesses angewendet, welches ein ausführliches Interview entweder mit dem betroffenen Patienten oder bei Kindern mit deren Eltern, eine Fragebogen Erhebung, eine testpsychologische sowie neuropsychologische Untersuchung sowie die Messung neurophysiologischer Hirnfunktionen mittels Elektroenzephalogramm (EEG) respektive Evozierte Potenziale (ERP) umfasst. Zusätzlich werden entweder den Patienten direkt oder bei Kindern deren Eltern verschiedene Fragebogen abgegeben. Die 5. Stunde bildet ein Befundgespräch, in welchem die verschiedenen Aspekte der erhobenen Daten mit dem Patienten und dessen Angehörigen besprochen werden. Unser Vorgehen entspricht mit Ausnahme der Erhebung von Hirnfunktionen genau den herkömmlichen Vorgehensweisen im diagnostischen Prozess (zB. Weitbrecht, 1968).

Vor ungefähr 20 Jahren wurde uns bewusst, dass den standardmässigen diagnostischen Elementen ein weiteres Element, nämlich die Erfassung von Gehirnfunktionen beizufügen ist. So wie zB. Kardiologen spezifische Aussagen zum Herzen und dessen Funktionsweisen machen können, müssten Fachleute in unserer Disziplin in der Lage sein, zum wichtigsten Organe überhaupt, dem Gehirn, spezifische Aussagen zu machen.

Die Hirnfunktionen betrachten wir als einen zusätzlichen Mosaikstein. Bei der Messung der Hirnfunktionen muss ein Patient während 22 min eine Aufgabe zur Daueraufmerksamkeit lösen, während welcher das Gehirn des Probanden mit Tönen und Bilder provoziert wird, so dass neurophysiologische Reaktionen entstehen. Diese Reaktionen werden gemessen und mit Normdaten verglichen. Abweichungen werden analysiert und wenn sinnvoll und möglich interpretiert.

Die Ausgangslage in der herkömmlichen psychiatrischen Diagnostik ist durch eine zweiseitige Subjektivität geprägt: Einerseits ist da der Patient, welcher sich oft schon während längerer Zeit mit seinem Leiden auseinandergesetzt hat und entsprechend fixiert ist auf dieses liegt es ist seine subjektive Leidensgeschichte, der er ohnmächtig, das heisst ohne sinnvolle Strategie, gegenübersteht. Auf der anderen Seite steht die Fachpersonen mit eigenen Erfahrungen und eigener Lebensgeschichte sowie mit einem mehr oder weniger differenzierten wissen über das Leiden des Patienten. Die Fachperson ist aber in der herkömmlichen Diagnostik praktisch vollständig den Aussagen des Patienten ausgeliefert. Objektivierbare Messungen, wie sie die neuropsychologischen Untersuchungen ergeben, werden in der psychiatrischen Diagnostik allenfalls bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Es ist auch zweifellos so, dass neuropsychologische Untersuchungen bei vielen mentalen Störungen wenig bis nichts hergeben. Allenfalls werden projektive Tests eingesetzt. Fragebogendaten geben letztlich nur die vom Patienten angegebene Leidensgeschichte wieder.

Es ist unbestritten, dass die ärztlich, vertrauensvolle Therapie-Beziehung zwischen Fachperson und Patient auf dem Hintergrund des Arztgeheimnisses von besonderer Bedeutung ist (siehe dazu Hoff, 2016: Über Geheimnisse der Psychiatrie. In: Sollberger, D. et al (Hrsg.): Das Geheimnis. Berlin 2016). Die Psychiatrie kann allerdings die Besonderheit der ärztlichen Beziehung nicht für sich allein beanspruchen. Diese Beziehung unterscheidet sich letztlich in keiner Art und Weise von anderen Arzt Patienten Beziehungen. Es gilt sogar zu postulieren, dass Beziehungen in sehr vielen Disziplinen ausserhalb der Medizin für deren erfolgreiche Gestaltung ausschlaggebend sind (zum Beispiel Beziehungen im Rechtswesen, etc). Die therapeutische Beziehung auf der Grundlage des Arztgeheimnisses ist asymmetrisch und häufig auch mit ein Grund, weshalb Entwicklungen scheitern. Die Entwicklung der Psychiatrie in Richtung Evidenz schmälert aber die Arzt Patienten Beziehung in keiner Art und Weise. Im Gegenteil, diese wird durch den Einsatz von objektivierbaren Methoden verbessert.

Neurowissenschaftliche Untersuchungen (fMRI, EEG, ERP) als mögliche evidenzbasierte Untersuchungen werden heute kaum eingesetzt, obwohl heute bereits ein reiches Wissen über die Zusammenhänge zwischen Biologie, Emotionen, Kognitionen und dem Verhalten bestehen (siehe dazu zum Beispiel Kandel, ER, 2013, Principles of Neural Science, 5. Auflage). Auch die vom früheren Chef des NIMH, Thomas Insel, gemachten Aussagen, wonach zukünftig mentale Diagnosen viel genauer sein würden, haben wenig zum Umdenken beigetragen (siehe dazu: Insel, Th./Cuthbert, B.:Brain disorders? Precisely. Science 348, 499 (2015): DOI: 10.1126/science.aab2358). Dies hat wohl auch damit zu tun, dass die praktische Anwendbarkeit und Umsetzung der diversen Forschungsarbeiten nicht immer gegeben ist. Die Gehirn und Trauma Stiftung Graubünden geht genau den entgegengesetzten Weg: Es darf nur erforscht werden, was in der Praxis auch eingesetzt werden kann. Die Anstösse für die Forschung erfolgen aus der Praxis.